Richard Bodem
Ist jemand der wegschaut nicht auch Mittäter? Bräuchten wir nicht wieder viel mehr Zivilcourage und wie könnte diese konkret aussehen?
Marion Schinhofen
Wenn einzelne Zivilcourage zeigen, werden sie oft selber angegriffen oder später angezeigt. Ist schon krank, was hier im Lande passiert. Zivilcourage hat Seltenheitswert bekommen, dabei würde es schon reichen, wenn bei Gewaltattacken zumindest bei der Polizei angerufen werden würde (statt nur mit dem Handy zu fotografieren und ins Netz zu stellen) oder bei Gewalt an Kindern das Jugendamt informiert wird. Aber Mann/Frau halten sich lieber heraus. Die Gesellschaft könnte mit erhöhter Aufmerksamkeit enorm helfen. Wieder hin zu mehr Wahrnehmung, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft.
Richard Bodem
Also die Angst selbst Probleme zu bekommen und Gleichgültigkeit sind hier das Problem? Ich habe in der Pflege gerade in der Covidzeit aber ganz viele positive Erfahrungen gemacht, mit Menschen die, nicht organisiert, einfach geholfen haben. Könnten wir das schlummernde Potenzial, das ja vorhanden ist, vielleicht aktivieren?
Marion Schinhofen
Menschen, die anderen helfen, haben wir jede Menge. Es sind die unterbezahlten und ehrenamtlichen Helfer/innen, die unser Sozialsystem aufrechterhalten. Wenn sich das auf die gesamte Gesellschaft niederschlagen würde – mein Gott, wir hätten kaum noch Probleme!
Richard Bodem
Ich stimme Dir 100%ig zu. Die Pflegewissenschaft sagt es gibt zwei Ursachen für Misshandlung, Überforderung und das sich berauschen an Machtgefühlen. Deckt sich das mit Deinen Erfahrungen?
Marion Schinhofen
Einer hat mal gesagt: Wenn die Macht der Liebe, die Liebe zur Macht überwindet, erst dann weiß die Welt was Frieden heißt. Dem stimme ich 100 %ig zu. Kein Machtmensch hat bisher Gutes vollbracht. Sie bringen Krieg, Elend und sterben leider nicht aus.
Richard Bodem
Du beschreibst auch, wie eine Generation auf der Nächsten, auf dem Schweigen der Opfer aufgebaut wurde. Musste das nicht zwangsläufig auch Narben im kollektiven Unterbewusstsein einer Gesellschaft hinterlassen? Ist das eine der Ursachen unserer gesellschaftlichen Probleme in der Gegenwart?
Marion Schinhofen
Es gibt wissenschaftliche Berichte, dass wir von unseren (Ur-Groß-) Eltern ihre Narben, Verluste, Ängste und Traumata vererbt bekommen, also in den Genen haben. Was aber nicht als Ausrede dienen darf. Das könnte aufgefangen werden, wenn wir über die Vergangenheit Bescheid wissen, aus ihr lernen, sie akzeptieren und unser Leben engagierter verbringen würden.
Richard Bodem
Es gibt eine psychologische Studie, die sogar beschreibt, dass wir, ohne von den Traumata zu wissen, versuchen diese aufzuarbeiten. In „Nie wieder Wahnsinn“ schreibst Du, wir sollten das Gute bewahren und dem Schlechten Widerstand leisten. Im Moment scheint man alles Alte über Bord zu werfen nur, weil es alt ist und alles Neue zu bejubeln, nur, weil es neu ist. Bereits der griechische Philosoph und Staatsmann Solon sagte, eine solche Gesellschaft muss zwangsläufig untergehen. Wie siehst Du dieses Thema in der Gegenwart?
Marion Schinhofen
Dieser Hype ist absurd und spiegelt nur die gewachsene Oberflächlichkeit der Menschen wider. Es gab auch viel Gutes in der Vergangenheit, doch es wollte nicht gepflegt werden – so entstand nach und nach unsere konsumverwöhnte Wegwerfgesellschaft. Was nicht mehr neu ist – einfach weg damit.
Richard Bodem
Die Gewalttat des Einzelnen wird ja durch Strukturen und Hierarchien der Gesellschaft gefördert. Hat unsere Gesellschaft immer noch oder schon wieder Gewaltausübung als ein idealisiertes Bild von Macht und Stärke?
Marion Schinhofen
Als idealisiertes Bild sehe ich das nicht. Die Gesellschaft ist nur abgestumpft, und keiner sucht die Wurzel des Übels. Die Ursache sehe ich u. a. in den Medien, durch die Dauerberieselung und Gewaltverherrlichung mit Kriminalserien, Mord und Totschlag, Brutalität, Sex und jede Art von Tabubruch.