Leseprobe:
Drei Tage – und ihr Leben wird nicht mehr wie es war.
Sie prallen fast aufeinander, murmeln irgendeine Entschuldigung, wollen weitereilen, bleiben aber wie vom Donner gerührt stehen. Es ist zu spät, um wegzulaufen. Mein Gott. Eine Begegnung hier schien ihnen bis heute unmöglich. Nach so vielen Jahren sehen sie sich wieder. Ausgerechnet an einem Ort, wo keiner von beiden geglaubt hätte, den anderen je zu treffen. So sehr sich Paul über das Wiedersehen mit Betty freut, merkt man ihm seine Verlegenheit über den Ort des Zusammentreffens und seinen Aufzug an. Eine Woge der Scham überrollt ihn. Er wollte nichts weiter als ein Bett für die kommende Nacht haben und ist froh, hier den letzten freien Platz erwischt zu haben. In seinen Kreisen hat es sich herumgesprochen, dass Obdachlose, verkrachte Existenzen und Vagabunden, also Randgruppen unserer Gesellschaft, für kurze Zeit ohne Bedingungen hier Aufnahme finden. Es gibt für jeden ein sauberes Bett, warmes Essen, eine heiße Dusche und Kleidung. Klar, es ist kein Erholungsheim, aber für ein paar Tage entrinnt man der Straße. Denn besonders der nahende Winter entfacht die Angst ums Überleben. Paul spürt so etwas wie Sicherheit.
Das Aufeinandertreffen, so unverhofft, hat sie beide mehr aufgewühlt, als sie es sich eingestehen wollen. Natürlich sind sie älter geworden und das Leben hat manche tiefe Kerbe in ihr Gesicht und in ihr Herz geschlagen. Nun sitzen sie hier auf der Bank und Paul fängt an zu erzählen.
»Ich und auf der Straße leben? Wer mir das früher vorhergesagt hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Das geht auch nicht von heute auf morgen, es ist ein schleichender Prozess. Dann aber passiert es schneller, als ich es jemals für möglich hielt. Wenn anderen Menschen Unheil zustößt, nehmen wir es hin. Trifft es uns selber, begreifen wir es nicht. Du stehst fassungslos auf der Straße und weißt nicht wohin. Es ist kalt, du hast nur diese eine Kleidung auf dem Leib, ein paar Mark, Zigaretten, ein Feuerzeug in der Tasche und in einem kleinen schwarzen Koffer die letzten Habseligkeiten wie Fotos, Briefe, Decke, Socken und Waschzeug. In den ersten Stunden denkst du, das ist ein anderer. Du bist im falschen Film, das kannst nicht du sein. Ausgebrannt, ein hilfloses Bündel, lebensüberdrüssig. Das ist ein Albtraum. Gleich wachst du auf und der Spuk ist vorbei. Nein! Nach und nach wird dir schmerzhaft klar: Das ist die Realität, die schonungslose Wirklichkeit. Und was macht man? Eilig führen dich deine Schritte zum nächsten Kiosk. Du kaufst eine Flasche Korn, damit dich ein bisschen tröstliche Wärme durchströmt. Begonnen wird mit einem guten Schnaps, später bist du über jeden billigen gepanschten Fusel froh, den du dir leisten und einverleiben kannst. Schnell lässt du die Flasche in der Manteltasche verschwinden, denn es soll niemand denken, du wärst ein Säufer. Am Anfang trinkt man heimlich hinter einer Ecke versteckt, irgendwann ist dir auch das egal und du säufst, wo du gerade stehst.
Vor drei Jahren lebte ich noch nicht lange in Köln, als ich obdachlos wurde. Zuerst lief ich stundenlang völlig orientierungslos durch die Gegend. Um Mitternacht trieb es mich zum Rheinufer hin. Es war eine helle Vollmondnacht und im Wasser spiegelten sich die Lichter der Stadt wider. Überall sah es so friedlich aus, doch das Wort »grauenhaft« trifft es nicht einmal ansatzweise, wie ich mich fühlte. Wie magisch angezogen starrte ich in das tiefe Wasser. Hatte es eine hypnotisierende Wirkung? Ich ging einen Schritt vor. Was wäre, wenn ich jetzt hineinspringen oder mich einfach hineinfallen lassen würde? Würden die Wellen mich irgendwohin tragen oder ginge ich auf der Stelle sang und klanglos unter bis zum dunklen Grund? Würde ich danach bei meinen Lieben sein oder eher in der Hölle schmoren? Kurzerhand das ganze Elend hinter mir lassen? Wäre das gut oder feige? Ich schwankte, mein Kopf brummte. Und da holte mich so etwas völlig Banales aus meinen trüben Gedanken heraus. Ein betrunkener Nachtschwärmer tippte mich an und fragte torkelnd nach Feuer für seine Zigarette. Sollte ich nun dankbar oder empört sein?«